Rechts oder Links, das ist die Frage
Die zweigleisige Streckenführung ist eine Erfindung, um die Zugdichte auf stark beanspruchten Bahnstrecken erhöhen zu können. Und mit deutlich größerem technischen Aufwand verbunden, auch im Modell: Für jede Fahrtrichtung gibt es ein eigenes Gleis.
Und was macht nun der geneigte Zweigleiser-Modulbahner? Genau, er sperrt ein Gleis für Bauarbeiten. Oder erfindet sonstige Beweggründe, um "links" fahren zu können. :-/
Dieser Beitrag soll nun etwas Licht auf diesen diffusen Begriff des "Linksfahrens" werfen - bezogen auf das Vorbild.
Eine Sonderfahrt bei der Ausfahrt aus Rheine ins Gegengleis im Jahr 2008, Foto: Armin Mühl
Die Regeln für das "Linksfahren" haben sich beim Vorbild über die Jahre mehrfach geändert. Die folgenden Ausführungen beziehen sich daher auf die bei uns besonders beliebten 70er und 80er Jahre bei der Deutschen Reichsbahn. Zu manchen Signalbezeichnungen habe ich zur Illustration Links gesetzt, die dortigen Signalbezeichnungen können aber vom Text abweichen (stehen halt in einem anderen Kontext).
Als Unterstützung die Signale betreffend möchte ich die folgende Seiten empfehlen:
- www.Stellwerke.de für die Illustration, und
- www.bahnstatistik.de als Referenz-Signalbuch, welches sich aber so schlecht verlinken lässt.
Je nach Betriebssituation sieht die Fahrdienstvorschrift DV 408 der DR mehrere Varianten für das "Linksfahren" vor. Den Begriff "Linksfahrten" gibt es erst seit der Berichtigung der Farhdienstvorschrift DV408 am 1. September 1990. Bis dahin sprach man von "Falschfahrten", man fuhr auf dem "falschen Gleis". Als Überbegriff für alle nachfolgenden Betriebsvarianten wird das "Fahren entgegen der gewöhnlichen Fahrtrichtung" genannt. Damit wird auch Bezug genommen auf die Möglichkeit das "linke" Gleis zu befahren, ohne „falsch“ zu fahren.
Aber der Reihe nach:
Variante 1: Zeitweise eingleisiger Behelfsbetrieb
Der Begriff darf wortwörtlich verstanden werden und erklärt sich schon fast selbst. Die Anwendung erfolgt vorwiegend bei zeitlich befristeten Bauarbeiten an einem der beiden Streckengleise, z.B. bei Oberbauerneuerung über ein Wochenende. Die Einführung wird in einer Betriebs- und Bauanweisung (Betra) geregelt. Dort sind der Sperrzeitraum, das genaue Gleis mit dem gesperrten Gleisabschnitt und die Regelungen für die Baustellenbewirtschaftung festgelegt. In einer weiteren Unterlage, der Fahrplananordnung (Fplo), wird der planmäßige Zugbetrieb um die Baustelle herum geregelt, eventl. auch mit zugehörigen Umleitungen und unterbrochenen Zugverbindungen.
Das Baugleis wird gesperrt und an beiden Enden mit Schutzhalttafeln Sh2 begrenzt. Auf den Stellwerken werden Hilfssperren an den betroffenen Stelleinrichtungen angebracht.
Fahrten im Baugleis werden als Rangierfahrten durchgeführt. Hauptsignale verlieren für diese innerhalb des abgegrenzten Baugleises ihre Gültigkeit.
Das verbleibende Streckengleis wird für den Sperrzeitraum als eingleisige Strecke betrieben. Es wird also auch nicht falsch gefahren!
Für die Zugfahrten entgegen der gewöhnlichen Fahrtrichtung werden die Signale des rechten (Bau-) Gleises für gültig erklärt. Und zwar mit Schachbretttafeln So2 für Hauptsignale und mit Vorsignaltafeln So3 für Vorsignale, aufgestellt jeweils links vom linken Gleis in Höhe des zugehörigen Signales.
Die Bedienbarkeit der Signale ist durch den nicht angepassten Streckenblock nicht möglich.
Also werden Zugfahrten in das und aus dem Gleis entgegen der gewöhnlichen Fahrtrichtung mit Ersatzsignal oder schriftlichem Befehl A zugelassen. Den Auftrag, dabei das Gleis entgegen der gewöhnlichen Fahrtrichtung zu befahren gibt die "La" (Zusammenstellung vorübergehender Langsamfahrstellen und sonstiger Besonderheiten). In der La sind auch die gültigen Haupt- und Vorsignale mit ihren Standorten und den So2/So3 aufgeführt.
Blockstellen auf der freien Strecke können dabei als nicht gültig benannt sein (d.h sie werden in der La einfach nicht erwähnt), sie scheiden für die Zugfolge für Fahrten entgegen der gewöhnlichen Fahrtrichtung aus.
Am Standort des (rechts am Baugleis stehenden) Einfahrsignales des nächsten Bahnhofes, oder des Blocksignales einer Abzweigstelle, muß der Zug halten. Der Auftrag zur Weiterfahrt erfolgt durch Ersatzsignal oder schriftlichen Befehl A.
Der zeitweise eingleisige Behelfsbetrieb brachte einigen bürokratischen Aufwand mit sich und damit Einschränkungen in der Zugfolge. Außerdem waren Zugfahrten im Gleis entgegen der gewöhnlichen Fahrtrichtung nicht durch Blockeinrichtungen und häufig auch nur durch Hilfsfahrstraßen gesichert.
Variante 2: Zeitweise eingleisiger Betrieb
Der Begriff der zweiten Variante kommt ohne den Zusatz "Behelf" aus. Sie wird angewendet, wenn ein Gleis für absehbar längere Zeit gesperrt werden muß, z.B. für einen Brückenneubau. Dabei kann es auch Unterbrechungen der Sperrung, z.B. zu besonders beanspruchten Verkehrszeiten (z.B. Ostern) gegeben haben - bei einer fehlenden Brücke natürlich nicht.
Auch hier regeln eine Betra und Fplo'n die Bau- und Betriebsführung. Das Baugleis wird gesperrt und mit Schutzhalttafeln Sh2 begrenzt, Fahrten im Baugleis sind Rangierfahrten, usw. wie in Variante 1.
Nun der Unterschied: Um die Einschnitte in die Betriebsführung gering und die Sicherheit hoch zu halten werden die sicherungstechnischen Anlagen auf die eingleisige Betriebsführung angepaßt. D.h. es werden (häufig behelfsmäßige) Blockeinrichtungen installiert. Die Signale werden auch für Fahrten entgegen der gewöhnlichen Fahrtrichtung bedienbar, es werden Fahrtstraßen eingerichtet, und die Zugfahrten sind durch den Streckenblock abgesichert. Die Signale für Fahrten entgegen der gewöhnlichen Fahrtrichtung bleiben aber an ihrem Standort rechts des (Bau-) Gleises stehen und werden über So2/So3 als gültig gekennzeichnet. Auch hier gibt die La Auskunft über Signalstandorte, Geschwindigkeiten und den Auftrag, das Gleis entgegen der gewöhnlichen Fahrtrichtung zu befahren.
Eine Zugfahrt in das Gleis entgegen der gewöhnlichen Fahrtrichtung wird über eine ganz normale Hauptsignalbedienung im Zusammenhang mit dem Auftrag durch die La zugelassen. Eventl. für gültig erklärte Blocksignale auf der freien Strecke (mit So2-Tafel) werden normal bedient und müssen beachtet werden. Auch das Einfahrsignal bzw. Blocksignal einer Abzweigstelle wird normal bedient, bei einer Störung gibt es das Ersatzsignal Zs1 oder den Befehl A als Rückfallebene.
Der zeitweise eingleisige Betrieb war mit größerem technischem Aufwand verbunden. Man wendete ihn nur an, wenn eine Sperrung länger andauerte und die Streckenauslastung dies erforderte (mehr als 360 betroffene Züge).
Befehl A: Für allgemeine Angelegenheiten |
Befehl B: Für Fahrten im falschen Gleis, hier schon die Ausführung nach 1990 |
Befehl B ausgefüllt für eine Falschfahrt |
Variante 3: Befahren des falschen Gleises
Die Einführung desselben kann sehr spontan durch die Dispatcherleitung angeordnet werden. Meist als Reaktion auf plötzliche Unbefahrbarkeit eines Streckengleises, z.B. durch einen liegengebliebenen Zug. Das blockierte Gleis wird dabei auch gesperrt, jedoch kein Baugleis (es ist nur vorübergehend nicht nutzbar), die zweigleisige Strecke bleibt betrieblich auch weiterhin zweigleisig (im Unterschied zu Varianten 1 und 2).
Da bei der spontanen Einführung keine La oder Fplo über die Durchführung Auskunft gibt, müssen alle Daten, die für das Lokpersonal relevant sind in einem schriftlichen "Befehl B" gegeben werden:
- Der Auftrag, das falsche Gleis zu befahren;
- Fahrauftrag des Fdl. (denn Signale sind für Fahrten in dieses Gleis nicht bedienbar, weil keine Fahrstraßen vorhanden, und das Ersatzsignal darf bei Falschfahrten nicht bedient werden- denn wir fahren jetzt ins Falsche Gleis);
- gültige Hauptsignale während der Falschfahrt und
- das Verhalten am nächsten Bahnhof, bzw. der nächsten Abzweigstelle.
Alles mußte in diesen Befehl B.
Der Auftrag für das Lokpersonal, das falsche Gleis zu befahren wird also mit Befehl B gegeben. Der Fahrauftrag des Fdl. (zur Abfahrt) erfolgte in einem weiteren Abschnitt dieses Befehles B. Signale am rechten Gleis sind nicht gültig für die Falschfahrt, So2/So3 sind nicht aufgestellt. Der Befehl B regelte in einem weiteren Abschnitt, daß der Zug am Standort des (am rechten Gleis stehenden) Einfahrsignales anzuhalten hatte - auch bei Fahrtstellung!!! Der Lokführer auf Falschfahrt bedenke hierbei, daß im rechten Gleis weiterhin Betrieb stattfinden kann, z.B. wenn der schadhafte Zug wieder in Gang kommt, und das deshalb die Signale des rechten Gleises nicht für das falsche Gleis gelten können.
Die Einfahrt in den nächsten Bahnhof, oder die Überleitung an einer Abzweigstelle erfolgt (nein, nicht über Ersatzsignal, denn dieses war ja für das rechte Gleis voll gültig) über Befehl A, über das Handersatzsignal Zs1H (bitte im Unterpunkt "3. Zusatzsignale" nach Zs1H suchen), oder wenn es örtlich zugelassen ist über einen mündlichen Auftrag, z.B. über Funk. Soll der Zug an einer Abzweigstelle weiter falsch fahren, so geht die Prozedur von vorn los - ein neuer Befehl B.
Das Befahren des falschen Gleises war die Möglichkeit, schnell auf plötzlich eingetretene Betriebseinschränkungen (liegengebliebene Züge oder auch Weichenstörungen) zu reagieren. Aufgrund des hohen Schreibaufwandes konnte man betrieblich aber nicht mehr erreichen, als daß überhaupt noch etwas fuhr.
Variante 4: Signalisierter Falschfahrbetrieb
Um den Engpass "Befahren des falschen Gleises" etwas zu entschärfen, hat man sicherungstechnische Einrichtungen für Falschfahrten installiert.
Die niedrigste Stufe bestand darin, am Standort des Einfahrsignales auch am falschen Gleis ein vereinfachtes Einfahrsignal aufzustellen. Man hat also links vom "linken Gleis" (oder darüber auf einer Signalbrücke) ein Signal aufgestellt, welches nur Hl13/Hp0 (Halt) und Ersatzsignal Zs1 zeigen konnte. Ein Kompromiss von technischem Aufwand und betrieblichem Nutzen. Weil man aber den zeitaufwändigen Schreibkram mit dem Befehl ersparen wollte, welcher schon vor der Überleitung ins falsche Gleis entsteht, hat man die Ausfahrsignale für die Überleitung mit Zusatzanzeigern versehen, welche das Falschfahrersatzsignal Zs8 zeigen konnten. Damit konnte man auf den Befehl B vollständig verzichten.
Die Überleitung ins falsche Gleis erfolgt nun (bei haltzeigendem Ausfahrsignal) mit dem Falschfahrtersatzsignal Zs8. Am nächsten Bahnhof oder einer Abzweigstelle steht nun ein für das falsche Gleis gültiges Einfahr- oder Blocksignal. Die Überleitung in den Regelbetrieb erfolgt dort über Ersatzsignal Zs1 oder schriftlichem Befehl A. Soll weiter falsch gefahren werden, muß erneut entweder das Falschfahrtersatzsignal Zs8 oder ein Befehl B gegeben werden.
Variante 5: Gleiswechselbetrieb
Dagegen die höchste Ausbaustufe zur Variante 4 sieht signalabhängige Fahrstraßen in das falsche Gleis, Streckenblock (also für auch für das falsche Gleis) und Fahrstraßen für Einfahrten aus dem falschen Gleis vor. Der technische Aufwand dafür ist enorm, und wurde entsprechend selten angewandt.
Für die Überleitung eines Zuges ins falsche Gleis wird eine normale Fahrstraße eingestellt und das Ausfahrsignal bedient. Als Auftrag für das Lokpersonal, das falsche Gleis zu befahren, leuchtet zusätzlich zum Signalbild das Falschfahrauftragssignal Zs7. Wenn das Ausfahrsignal aus technischen Gründen nicht bedient werden kann (und für "Regelfahrten" das Ersatzsignal bedient worden wäre) wird das Falschfahrtersatzsignal Zs8 bedient.
Und am nächsten Bahnhof (oder Abzweigstelle) wird für die Überleitung ins Regelgleis eine Fahrstraße mit Hauptsignalbedienung eingestellt.
Soll der Zug an einer Abzweigstelle weiter falsch fahren, wird ein erneuter Auftrag dazu nötig. Entweder mit Signalbegriff und Falschfahrauftragssignal Zs7, mit Falschfahrtersatzsignal Zs8, oder mit Befehl B.
Der signalisierte Falschfahrbetrieb bietet je nach Ausbaustufe sehr flexible Betriebsmöglichkeiten an. Für Falschfahrten, signalisiert oder nicht signalisiert, brauchte es aber die Zustimmung des Dispatchers, die Fdl. durften nicht selbst entscheiden. Das rechte Gleis mußte gesperrt werden, „fliegende Überholungen“ waren also nicht zulässig. Nichts desto trotz konnte es doch vorkommen, daß ein liegen gebliebener Zug zwischenzeitlich wieder fahrtüchtig wurde (z.B. durch eine Hilfslok) und auf besondere Weisung durch den Fdl. seine Fahrt im gesperrten Gleis fortsetzte.
Variante 5: Mehrfach eingleisiger Betrieb
Wenn das Portemonnaies des Netzbetreibers (um mal moderne Fachausdrücke zu verwenden) es zuließ, oder es aus politischen Gründen zulassen mußte, was sollte dann dagegen sprechen, statt einer zweigleisigen Strecke gleich zwei eingleisige Strecken mit paralleler Streckenführung zubauen? Für den uneingeweihten Betrachter sieht es erstmal wie eine normale zweigleisige Strecke - und wie Wortklauberei - aus. Aber dadurch, daß man nicht mehr "links" oder "falsch" fahren kann, erspart man sich in der operativen Betriebsführung einige Hürden. Man kann die Gleise ganz nach Belieben nutzen, bei voller Signalabhängigkeit und damit Sicherheit. Ein besonders spektakuläres Beispiel dafür war der viermal eingleisige Abschnitt auf dem Berliner Außenring von Bln. Schönefeld bis zum Abzweig Genshagener Heide. Dort waren sogar alle vier eingleisigen Strecken in beiden Richtungen vollständig mit automatischem Streckenblock ausgestattet. Was es dort wohl für Überhol- und Kreuzungsmanöver gegeben haben mag (heute ist es dort etwas ruhiger, und die Strecke auf zweimal eingleisig zurückgebaut)?
Die Gleise einer mehrfach eingleisigen Strecke sind bezeichnet mit den Buchstaben R, S (T, U). Für die Betriebsführung ist jedem Zug im Fahrplan ein Regelgleis zugewiesen.
Wenn der Zug aus dem Bahnhof oder von einer Abzweigstelle in den mehrfach eingleisigen Abschnitt einfährt, wird ihm zusätzlich zum Signalbegriff auch der Richtungsanzeiger Zs4 mit dem Kennbuchstaben des Gleises angezeigt. Damit kann der Zug beliebig in eines der Gleise gelenkt werden, auch abweichend vom Fahrplan. Erst an einer Abzweigstelle muß der Lokführer aufpassen, daß er in seine richtige Richtung weitergeführt wird.
Die Varianten 1 und 2 waren nur bei Bauarbeiten zugelassen und auch nur, wenn die Strecke weder für Signalisierten Falschfahrbetrieb noch Gleiswechselbetrieb ausgestattet war.
Heute, im Jahr 2010, sind im Zusammenhang mit den elektronischen Zentralstellwerken ESTW die Abschnitte mehrfach eingleisiger Strecken deutlich angewachsen. Außerhalb der ESTW-Steuerbezirke sind auch mehr Strecken auf "Gleiswechselbetrieb" umgestellt worden. Das kommt zum einen den heutigen Taktfahrplänen und den größeren Geschwindigkeitsunterschieden der verschiedenen Zuggattungen deutlich entgegen. Zum anderen gibt es aber auch kaum noch Personal vor Ort, um die schreibintensiven "Linksfahrvarianten" überhaupt möglich zu machen. Die beiden zeitweise eingleisigen Betriebsvarianten (Variante 1 und 2) sind schon vor Jahren aus dem Regelwerk gestrichen worden - man hat genug Alternativen. Das "falsche Gleis" hieß zwischenzeitlich "linkes Gleis", und heißt aktuell "Gegengleis". Und auf mehrfach eingleisigen Strecken fährt man nun auf der "links verlaufenden eingleisigen Strecke" – auf den genauen Wortlaut legt man weiterhin großen Wert.
erstellt von Thomas Bastian und Knut Ochdorf am 03.06.2010
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