Was macht der alte Boxcar hier? - Eine augenzwinkernde Betrachtung

Joschi, wir spielen 1975 und Du stellst einen alten Epoche III-Boxcar auf die Gleise. Willst Du uns ärgern?

Will ich natürlich nicht. Wie kommt der Modulist auf solch einen Gedanken, er sollte mich doch kennen. Und wieder ertappe ich mich bei der Frage, warum die Leute so phantasielos sind. Ich atme tief durch und erzähle ihm die Geschichte des alten Boxcars.

Also, das war so: vor etwas weniger als 10 Jahren, es muss im Herbst 1966 gewesen sein, kam der Boxcar mit einer Ladung leerer Fässer für Salzsäure nach Kranichsfeld ins Salzsäurewerk. Irgend jemand an der polnischen Grenze wollte Salzsäure in Fässern geliefert bekommen. Also entlud man die Fässer, füllte sie und verlud sie wieder in den Boxcar. Als dann der Streckenrangierer mit seinem Nahgüter kam und den Wagen abholen wollte, stellte er eine gebrochene Blattfeder am vorderen Drehgestell fest. Der Schaden war derart, dass der Waggon nicht mehr bewegt werden konnte. Also steckte er einen Schadzettel mit der Aufschrift „Nicht bewegen“ in den Zettelhalter.

Man kann sich leicht vorstellen, dass sich die Begeisterung bei den Verantwortlichen im Salzsäurewerk in Grenzen hielt. Zwei Tage später kam ein Ersatzwaggon und alle Fässer wurden umgeladen und abgefahren. Und der Boxcar? Der blieb erst mal, bis zur Klärung, wie es hieß, im Salzsäurewerk.

Aus dem Auge, aus dem Sinn, könnte man meinen. Lange tat sich nichts, der Waggon stand und stand. Nun war das ja die Zeit, in der Standgeld nichts unbekanntes war und so erinnerte der Anschlußbahnleiter des Salzsäurewerkes die Verantwortlichen der Deutsche Reichsbahn schon mal an den abgestellten Boxcar. Und natürlich brachte er dabei auch das Gespräch auf des Standgeld, dass er ganz bestimmt nicht für diesen Wagen bezahlen werde. Überhaupt fehle ihm der Platz beim rangieren.

Bei der Staatsbahn mahlen die Mühlen langsam. Irgendwann kam die Anfrage an das Salzsäurewerk, ob es denn einen Kran gäbe, der den Wagen mal anheben könne, damit die Feder gewechselt werden kann. Den gab es natürlich nicht und es gab auch keine Möglichkeit, mit einem Kran an den Wagen heranzukommen. Es sei denn, die DR würde mit einem Eisenbahnkran kommen. Dann aber müssten vermutlich erst einmal die Gleise für die Achslasten ertüchtigt werden.

So verging die Zeit. Inzwischen waren die Fristen des Wagens abeglaufen und überhaupt, der Wagen stand ja eh zur Ausmusterung, also so richtig ist da eine Instandsetzung nicht zielführend. Also steht die Frage im Raum, ob man den Wagen denn an Ort und Stelle zerlegen könne. Nein, kann man nicht, war die Antwort des Anschlussbahnleiters, der den Ball so wieder zur DR zurückspielte. Und genau deswegen steht im Sommer 1975 der alte Boxcar aus der Epoche III immer noch im Salzsäurewerk.

Mein Modulistenkollege guckte mich recht ungläubig an. Also setzte ich die Geschichte damit fort, was sich in den nächsten Jahren abspielen würde.

Nach einiger Zeit, und das wird während dieses Treffens passieren, sendete die DR einen Wagenmeister nach Kranichsfeld, der mit der Rangierlok unter persönlicher Beobachtung den Wagen aus dem Salzsäurewerk in den Triebwagenschuppen umsetzen sollte. Dort, so der Plan, sollte der Boxcar dann zerlegt werden.

Wie es aber so ist, der Boxcar entging wieder der Verschrottung. Denn kurz nachdem der Waggon im Triebwagenschuppen abgestellt wurde, wurde die kleine Einsatzstelle geschlossen. Alle Kollegen wurden der Einsatzstelle Weimar zugeordnet und mussten fortan dort Dienst tun. Der Triebwagenschuppen wurde verschlossen und der Boxcar begann seinen Dornröschenschlaf. Über zehn Jahre kümmerte sich kein Mensch um den Triebwagenschuppen und den darin abgestellten Waggon. Eines Tages aber, das Dach des Werkstattbereichs war längst eingefallen, wurde bekannt, dass der Bahnhof Kranichsfeld verändert werden soll. Bei dieser Gelegenheit sollte auch die Weiche zum Triebwagenschuppen ausgebaut werden. Also wurde ein Mitarbeiter der Immobilienverwaltung zur Besichtigung des Triebwagenschuppens nach Kranichsfeld geschickt.

Im Normalfall wäre da nichts spektakuläres passiert, aber eben dieser Mitarbeiter war Mitglied in einem Eisenbahnverein. Als der den Boxcar sah, war sein Jagdinstinkt angestachelt. Der Waggon muss doch gerettet werden, den kann man doch nicht so einfach verschrotten. Die Zeit drängte, in einem halben Jahr sollte die Weiche ausgebaut werden.

Schnell wurde klar, dass man den Boxcar nicht einfach aus dem Schuppen ziehen und per Schiene in sein neues Domiziel bringen kann. Aber aus dem Schuppen musste er raus, ehe die Weiche ausgebaut wurde. Wieder kam ein Fachmann und wieder wurde der Boxcar unter Beobachtung aus dem Schuppen geborgen. Es dauerte fast einen ganzen Tag um den Wagen in das Gleis an der Ladestraße zu bugsieren. Dort konnte man wenigstens mit einem Autokran den Wagen anheben.

Nach etwas über einem halben Jahr war es dann soweit. Die Jungs vom Eisenbahnverein hatten tatsächlich noch eine Ersatzfeder aufgetrieben. Die Kosten für den Kraneinsatz wurden durch eine Spendenaktion gesammelt, den Wechsel der Feder übernahmen die Vereinsmitglieder selber. Schließlich gab es einige Wagenschlosser unter ihnen, die noch an diesen alten Waggons gearbeitet hatten. Und so kam es dann, dass der alte Boxcar Ende 1992 mit einer Sonderüberführung von Kranichsfeld abgefahren wurde. Also auch in der Epoche V stand der Boxcar noch gut sichtbar im Bahnhof.

Und dann … ? Nun ja, im Eisenbahnverein änderte sich die Ausrichtung. Die Instandsetzung und Aufarbeitung des Boxcars war noch lange nicht abgeschlossen, aber die Mitglieder, die den Boxcar unter ihren Fittichen hatten, verließen den Eisenbahnverein. So stand der Boxcar für längere Zeit im Freien. Nur gut, dass man die Aufarbeitung mit dem Dach begonnen hatte.

Jahre später wechselte der Boxcar zu einem anderen Eisenbahnverein und das Verkehrsmuseum Nürnberg wurde auf das Fahrzeug aufmerksam. Und siehe, der Boxcar war dem Papier nach immer noch im Bestand der Bahn und hatte in den Eisenbahnvereinen nur den Status einer Leihgabe. So konnte der Waggon in den Bestand der Eisenbahnfahrzeuge des Verkehrsmuseums Nürnberg wechseln. Letztmalig 2014 wurde er abgestellt im Nürnberger Güterbahnhof zusammen mit anderen Fahrzeuge gesichtet. Wo er im Moment aufbewart wird ist nicht bekannt. Aber mit Sicherheit wird er wohl irgendwann mal wieder auftauchen. Und das mitten in der Epoche VI. Man darf gespannt sein!

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